Zwischen Licht und Papier – Japans Laternen und die stille Magie des Leuchtens
Nov 06, 2025
Wer nachts durch die schmalen Gassen von Kyoto schlendert, hört vielleicht das leise Klicken von Fahrradketten, das ferne Klirren von Geschirr, und über allem hängt ein sanftes, warmes Licht. Es zeigt sich an hölzernen Türrahmen, über niedrigen Eingängen, an Tempelmauern und Brücken: Runde, zylindrische, manchmal ovale Gebilde aus Bambus und Papier, die so zart wirken, dass man sich fragt, wie sie überhaupt Wind und Regen trotzen können. Diese Laternen heißen Chochin und sie sind so alltäglich in Japan, dass sie zwar überall zugegen sind, man sie aber selten so richtig bemerkt. Doch wer stehen bleibt und genauer hinschaut, erkennt in ihrem leisen Glühen ein Stück japanische Seele. Eine Verbindung von Handwerk, Geschichte, Spiritualität und alltäglicher Schönheit.

Vom praktischen Licht zum kulturellen Symbol
Die Geschichte der Chochin reicht weit zurück. Schon im 16. Jahrhundert waren sie in Japan verbreitet. Damals gab es weder Straßenbeleuchtung noch elektrische Lampen. Die Menschen trugen ihr Licht bei sich, geschützt durch eine Hülle aus Bambus und Papier, die sich zusammenfalten ließ. Das war der Clou: Das Gestell bestand aus spiralförmig geschnittenem Bambus, überzogen mit feinem Washi-Papier. So konnte man die Laterne zusammenschieben, wenn man sie nicht brauchte. Ein Stück raffinierter japanischer Ingenieurskunst lange vor der Moderne.
Der Name Chochin bedeutet wörtlich „tragbares Licht“. Ursprünglich war sie ein Gebrauchsgegenstand zum Reisen, für Tempel, für nächtliche Märkte. Doch schon bald begann sie, mehr zu werden: Symbol, Kunsthandwerk, spirituelles Zeichen. In Tempeln hingen Chochin mit aufgemalten Schriftzeichen, die Göttern oder Schutzgeistern gewidmet waren. In Städten begannen Händler, ihre Läden damit zu markieren. So wurde aus der praktischen Laterne ein visuelles Statement: „Hier ist Licht, hier ist Leben.“
Heute, Jahrhunderte später, leuchten sie immer noch, auch wenn die Flamme längst durch LED ersetzt ist. Aber die Form, das Gefühl, die Stimmung – all das hat sich kaum verändert.

Das Handwerk des Lichts
Wer eine traditionelle Chochin-Werkstatt besucht, versteht sofort, warum dieses Handwerk fast meditativ wirkt. Das Knacken des Bambus, das gleichmäßige Drehen des Rahmens, das Aufspannen des feuchten Washi über die filigrane Struktur: Alles folgt einem Rhythmus, der über Generationen weitergegeben wurde.
In Orten wie Gifu oder Fukui haben sich Werkstätten erhalten, in denen das alte Handwerk noch gelebt wird. Eine gute Laterne wird nicht einfach geklebt, sondern auf Spannung gebaut, der Bambusrahmen spiralförmig gebogen, sodass er flexibel bleibt und die Laterne „atmet“. Das Washi wird sorgfältig aufgeklebt, Schicht für Schicht, oft mit Reispaste, und danach mit einem klaren Lack überzogen, um es widerstandsfähiger zu machen. Schließlich kommt der Moment, in dem die Laterne zum ersten Mal leuchtet. Ein Moment, den viele Handwerker als fast rituell beschreiben. Jede Laterne hat ihre Persönlichkeit – in der Farbe, der Beschriftung, der Form. In Restaurants sind oft rote Chochin mit schwarzen Schriftzeichen zu sehen, eine Einladung, einzutreten. In Tempeln sind sie weiß, mit kalligraphierten Namen der Schutzgottheiten. Und bei Festen hängen sie in Reihen, jede leicht unterschiedlich im Ton, als ob sie miteinander flüstern.

Wenn die Nacht erwacht – Chochin in der modernen Kultur
Trotz ihrer tiefen Wurzeln ist die Chochin erstaunlich modern geblieben. In Städten wie Tokyo, Osaka, Sapporo oder Nagoya bilden sie heute die visuelle Kulisse für das Nachtleben. Gerade in Izakaya-Vierteln schaukeln die vertrauten roten Laternen im Wind. Ihr Licht ist wie ein Versprechen: Hier warten Wärme, Gespräche, Essen, Leben. Vielleicht ist das der Grund, warum die Chochin nie verschwunden ist. Sie hat ihren festen Platz in der urbanen Gegenwart gefunden. Selbst hippe Cafés oder Designläden greifen ihre Form wieder auf, manchmal minimalistisch in Weiß, manchmal neu interpretiert mit geometrischen Mustern oder Stoffen. Gleichzeitig bleibt ihre kulturelle Tiefe erhalten. Bei Tempelfesten hängen Hunderte Laternen in langen Reihen. Wenn sie entzündet werden, verändert sich die Atmosphäre schlagartig. Aus Lärm wird ein Flirren, aus Chaos ein stiller Glanz.
Selbst im modernen Japan, wo Neonlichter ganze Stadtviertel in grelles Licht tauchen, hat die Chochin ihre Kraft nicht verloren. Vielleicht gerade deshalb. Sie ist das Gegenteil von grell. Sie leuchtet nicht, sie glüht. Sie ist kein Licht, das auffällt, sondern eines, das berührt.

Reisen im Zeichen der Laterne
Wer Japan bereist, begegnet den Chochin an unzähligen Orten. Manchmal als stiller Begleiter, manchmal als Star der Szene. In Kyoto hängen sie vor traditionellen Teehäusern, oft mit handgemalten Kanji, deren Pinselstriche einfach nur faszinieren. In Asakusa, einem der ältesten Viertel Tokyos, markiert eine riesige rote Laterne das Tor des Sensō-ji-Tempel, ein wahrhaft ikonisches Motiv. Und in kleinen Städten, weit weg von den Metropolen, hängen Chochin über engen Gassen, wo sie das Pflaster in goldenes Licht tauchen. Bei Sommerfesten werden ganze Straßenzüge mit Laternen geschmückt werden. Kinder tragen kleine Chochin, Familien schlendern durch die Straßen, Musik erklingt, Essensduft liegt in der Luft. Es ist eine Art gemeinsames Ritual: Das Licht markiert nicht nur das Fest, sondern auch die Verbindung der Menschen untereinander.

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Vielleicht liegt die Faszination der Chochin darin, dass sie Gegensätze vereint: Alt und neu, Licht und Schatten, Funktion und Poesie. Sie hat ihren Ursprung in der Notwendigkeit – man brauchte Licht. Doch sie überdauerte die Jahrhunderte, weil sie nie nur praktisch war. Sie war immer auch schön, und Schönheit hat in Japan eine lange Tradition.